"Alle werden mobilisiert" – Die Ukraine und ihre Kriegsszenarien gegen Russland
In einem Großinterview zum Jahresrückblick fragten die Journalisten des Onlineportals focus.ua den ukrainischen Präsidenten, was er von einem "neuen" Angriff Russlands auf die Ukraine hält. Dieser könnte von der Krim kommen, wo es derzeit Probleme mit der Wasserversorgung gibt. Sei der Angriff nicht etwa denkbar?
Es war nur eine der vielen Fragen bei dem Gespräch, wobei die Themen wie COVID-Pandemie oder Skandale mit Antikorruptionsbehörden viel eher im Vordergrund standen. Für Aufsehen sorgte aber das, was Präsident Selenskij zur Kriegsfrage sagte.
"Es ist eine furchtbare Situation, ich will sie mir gar nicht vorstellen. Ich bin dagegen. Hoffen wir, dass das nicht möglich ist. Andernfalls wird es zu einem großen Krieg kommen. Wir werden nicht weichen, wir werden alle in den Krieg ziehen, alle werden mobilisiert – sowohl Männer als auch Frauen. Es wird schlecht für die Bevölkerung der Ukraine sein. Und ich denke, dass Russland dies sehr gut versteht", sagte der Präsident.
Das Interview erschien am frühen Morgen des 25. Dezember. Am selben Abend kommentierte im Onlinemagazin Nowoje Wremja (NW) der stellvertretende Sekretär des Rates für Sicherheit und Verteidigung (SNBO), Sergei Kriwonos, die Aussagen des Präsidenten. Er sagte, dass die Mobilisierung unrealistisch sei. Alle Männer und Frauen seien aus seiner Sicht nach wie vor nicht patriotisch genug und es sei unwahrscheinlich, dass diese Leute, an die Front ziehen. Außerdem seien sie militärisch nicht ausgebildet.
Kriwonos ist "Veteran" des Donbasskriegs und gilt als Kriegsfalke. Er ist einer derjenigen, der in den Medien gerne über verschiedene Kriegsszenarien spricht. Im Oktober warnte er Russland:
"Im Falle einer groß angelegten Aggression gegen die Ukraine wird Russland einen 'Strom von Särgen' erhalten."
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Den Krieg für die "Befreiung" der Krim hält er zwar für gerecht, aber für nicht zielführend, solange die Donbassfront noch existiert. Deshalb setzt der Militär auf scharfe Sanktionen gegen Russland, damit es die Krim an die Ukraine von selbst zurückgibt. Im aktuellen Kommentar zeigte sich der SNBO-Vize beeindruckt von der Effizienz der aserbaidschanischen Offensive im Krieg um Nordkarabach. Gute Planung, kombiniert mit Technik und nicht die Anzahl der Soldaten seien dort entscheidend gewesen.
"Wir kämpfen doch nicht mit Fleisch, wir schmeißen die Menschen nicht zu Zehntausenden an die Front (…) Eine riesige Anzahl von mobilisierten Männern wird die Frage der Fähigkeit, dem Feind zu widersetzen, nicht lösen", so Kriwonos.
Diskussionen wie diese finden regelmäßig statt. Vor allem die Frage der Wasserversorgung auf der Krim sieht man in Militärkreisen als einen möglichen Kriegsgrund für Russland. Ende April 2014 stoppte die Ukraine die Wasserzufuhr in den Nord-Krim-Kanal und legte damit die Landwirtschaft auf der Halbinsel weitgehend lahm. Nach mehreren besonders dürren Sommern kam es auf der Krim zu massiven Umweltschäden und Problemen mit der Trinkwasserversorgung. Nun will Russland eine Wasserentsalzungsanlage an der Krimküste bauen – RT berichtete.
Trotz dieser friedlichen Pläne zur Selbstversorgung könnte Russland aus der Sicht des ukrainischen Militärs zumindest in das Gebiet Cherson eindringen und den Damm, der den Fluss Dnjepr derzeit vom Nord-Krim-Kanal trennt, erobern. "Es wird viele Opfer geben sowohl bei unseren Soldaten als auch den Zivilisten. Unsere Einheiten bereiten sich auf solche Aktionen vor", sagte im Juni der Oberbefehlshaber der ukrainischen Seestreitkräfte Alexei Neizhpapa. Solche Äußerungen waren sogar für den MDR Grund genug, nach der neuen Kriegsgefahr zu fragen – "Dürre auf der Krim: Löst Russland das Problem militärisch?
Die Intensität dieser Gerüchte war im Sommer so hoch, dass der Kremlsprecher Dmitri Peskow derartige Kriegspläne ausdrücklich dementieren musste. "Das ist völliger Unsinn, das ist eine künstlich aufgebaute antirussische Hysterie in der Ukraine, die zu unserem Bedauern in keiner Weise zur Lösung der Situation im Südosten [der Ukraine] beiträgt", sagte er.
Aber auch nach diesem Dementi kehrt die "Krimfrage" immer wieder zurück. Ende Juli 2020 erklärte der Vertraute des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko und langjährige SNBO-Chef und Interimspräsident nach dem Maidanputsch, Alexander Turtschinow, dass er bereit sei, sich an der Erstürmung der Krim zu beteiligen, sollte dies Wladimir Selenskij befehligen. Offenbar will er damit sein Nicht-Eingreifen zu Zeiten des Krimreferendums im März 2014 wiedergutmachen. Derzeit wird ihm in der Ukraine vorgeworfen, gegen die russische "Annexion" der Republik Krim als damaliger Interimspräsident nichts unternommen zu haben.
Solche Äußerungen, die immer wieder von den höchsten Amtsträgern in der Ukraine fallen, sind seit Jahren fester Bestandteil der ukrainischen politischen Kultur. Die Vorstellung, dass Russland eine Art existenzieller Feind der Ukraine sei, könnte auch manches in der Innenpolitik rechtfertigen. Im Oktober haben die USA der Ukraine ausdrücklich verboten, russisches Vakzin gegen das Coronavirus zu kaufen. Ein westliches Vakzin ist aber erst nach Monaten lieferbar. Deshalb steht der Präsident in Erklärungsnot, warum die Menschen trotz der Bereitschaft Russlands es in der Ukraine herstellen zu lassen, doch auf den russischen Impfstoff Sputnik V verzichten müssen.
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Schoigu: Brüderliches Volk
Es ist bekannt, wie der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu die Möglichkeit eines russisch-ukrainischen Krieges bewertet. Im September 2019 fragte ihn der Korrespondent der Zeitung Moskowski Komsomolez (MK) in einem Interview, ob es die Gefahr eines direkten militärischen Zusammenstoßes zwischen den Armeen Russlands und der Ukraine gebe. Die Möglichkeit, dass Russland die Ukraine angreifen könnte, schloss der MK-Korrespondent von vorneherein aus. "In Kiew hört man regelmäßig Drohungen, 'mit Panzern triumphierend durch Moskau zu fahren:'", sagte er.
"Ich möchte nicht einmal darüber nachdenken. Ich hoffe sehr, dass das ukrainische Volk und die ukrainischen Behörden genug Willen, Kraft und Kapazitäten haben, um diese Hitzköpfe, die zu solch einem Unsinn und verrückten Plänen aufrufen, abzukühlen", sagte Schoigu.
Schoigu leitete 18 Jahre das Katastrophenministerium, bevor er im Jahr 2012 in das Amt des Verteidigungsministers wechselte. Schoigu ist wortkarg und gilt viel eher als "Mann der Taten", was sich in seiner Popularität auszahlt. Sowohl bei Experten als auch bei der Bevölkerung belegt er im Minister-Rating stets den ersten Platz. Was er in der Beantwortung der Frage zur Ukraine weiter sagt, ist bezeichnend:
"Irgendwann muss man die Extremisten in der Ukraine ohnehin stoppen. Ich wünschte nur, man hätte es früher gemacht."
Dann erzählte Schoigu, dass seine Familie mütterlicherseits aus der Ukraine stamme. Laut dem Minister sind die Ukrainer eine brüderliche Nation, die mit den Russen durch die gemeinsame Geschichte verbunden sei. Insbesondere betonte Schoigu die Bedeutung der Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg.
"Und ich bin absolut überzeugt, dass wir in Frieden und guter Nachbarschaft mit dem ukrainischen Volk leben werden. Die Zeit dafür, da bin ich mir sicher, wird kommen", sagte er.
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Redaktioneller Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst mit der Überschrift "Auch Frauen werden in den Krieg ziehen" – Die Ukraine und ihre Kriegsszenarien gegen Russland. Durch die verwendeten Anführungszeichen musste der falsche Eindruck entstehen, dass es sich um ein wortwörtliches Zitat handelt, dabei wurde die Aussage von Selenskij lediglich sinngemäß wiedergegeben. Wir haben die Überschrift daher korrigiert und bitten diesen Fehler zu entschuldigen.
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